Antje Vowinckel (2022)

 Hubraum. Performance für zwei oder vier vibrierende Lautsprecher.

Hubraum Duo ist eine Konzert-Performance für zwei Spieler mit zwei 15-Zoll- Lautsprechern, die mit einer Infraschall-Frequenz per Handy-Oszillator zum Vibrieren gebracht werden

Hubraum Quartett ist eine musikalische Intervention im öffentlichen Raum für vier Performer*innen, die in Auto mit wummernden Bässen ankommen und dann eine Komposition für Objekte in vibrierenden Lautsprechern spielen

Re-Interpretation

Hubraum ist inspiriert von einer alltäglichen Erfahrung in Berlin-Neukölln.  Wie in vielen Großstädten sind hier Auto-Lautsprecher mit hoher Wattzahl gängige Statussymbole, die es erlauben, den öffentlichen Raum mit der eigenen Musik zu prägen. Sicher gibt es auch Professorinnen, die so durch die Stadt fahren, aber im Klischee verbindet sich dieser Klang mit machohaften Männern. Die Fahrer solcher sind meistens nicht die gleichen Menschen, die Konzerte für experimentelle Musik besuchen. Sie dominieren mit ihren Sounds meinen Alltag, aber leben überwiegend in einer Parallelwelt. – Muss das so sein? Sie agieren mit Klängen, ich agiere mit Klängen, könnte es da nicht eine Schnittstelle geben?

Material Melodies

Hubraum Quartett ist die Umdeutung dieser alltäglichen Klischee-Situation: Vier Autos mit Basslautsprechern fahren auf einen öffentlichen Platz[1]. Zu hören sind die Bass-Riffs von gängigen Pop-Songs. Dann halten die Autos, die Bässe versiegen. Die Fahrer steigen aus, jeder mit einem großen Basslautsprecher unter dem Arm. Sie gehen nun zu einem vorbereiteten Setting und schließen ihre Lautsprecher jeweils an einen Miniverstärker an.

Diese erhalten ein Audio-Signal von Handys mit Oszillator-App. Eine Infraschall-Frequenz von ca. 10-11 Hz lässt die Membran stark vibrieren. Die Membran hat also auch einen „Hubraum“.  In diesem Hubraum spielen nun die vier Performer eine Komposition nach einer graphischen Partitur, die sie vom Tablet lesen. Dabei benutzen sie eine Reihe verschiedener Objekte, mit denen sie die Membran berühren. Die Bewegung der Membran wird also digital erzeugt und zwar mit Handys – also wie der Auto-Lautsprecher ein Alltagsgegenstand, den jeder kennt. Der Ton selbst ist nicht zu hören, da die Schallwellen zu langsam sind.  Die Frequenz wird nur indirekt hörbar, indem wir die vibrierende Membran mit Objekten berühren, so dass der unhörbare Puls sich auf die Materialien überträgt. Da die Klänge leise sind, werden sie von Mikrofonen abgenommen und auf ein Audio-Anlage übertragen. So sind auch stereophone Bewegungen möglich.

Für das Spielen benutzen die Performer Papier, verschiedene Bleche, Styropor in unterschiedlichen Formen, Hackbrettschlegel, biegbare Hölzer und Chipkarten. Sie wurden in einer experimentellen Phase ausgetestet. Wichtigstes Kriterium: Wie weit lässt sich der Klang eines Materials durch Handhabung variieren? Durch das Reiben von Styropor, das Tippen auf Bleche oder Drücken auf die Plastikrille wird der motorische Grundcharakter immer wieder durchbrochen. Neben den Klangvariationen bestimmen Pausen und Wiederholungen den Verlauf der Komposition.

Das Spielen mit diesen Materialien erfordert musikalische Erfahrung, Übung und rudimentäre Notenkenntnisse. Die Partitur ist graphisch notiert und wird von einem Tablet gelesen. Sie zeigt in erster Linie die verwendeten Objekte verwendet jedoch auch klassische Notationssymbole wie Pausen, Fermaten, Crescendo usw.

Das Notenpapier am Anfang (ein augenzwinkernder Verweis auf das konventionelle Komponieren) berührt die Membran noch gar nicht. Es reicht die Bewegung der Luft, um das Papier zum Flattern zu bringen. Je nachdem, wie das Papier gehalten wird, kann die Spannung des Papiers variiert werden, so entstehen unterschiedliche Flatterklänge.   Bei den folgenden Klängen berühren die Materialen nun die Membran. Auch hier spielt die Handhabung eine wichtige Rolle. Es kommt darauf an, mit den Händen die Spannung der Materialien zu kontrollieren. So kann man z.B. durch Biegungen der Bleche und der Holzstäbe „material melodies“ erzeugen, also einen Tonhöhenverlauf.

Am Ende der Performance werden Chipkarten in die Lautsprecher geworfen. Sie eignen sich aus zweierlei Gründen: zum einen ist es wieder ein Alltagsgegenstand, den alle in der Tasche haben, die Zuhörenden könnten quasi gleich ihre eigene Karte zücken und mitspielen; zum anderen eignen sich die Karten durch ihre Form und ihr Gewicht. Sie sind leicht und ohne Schwerpunkt. Sie werden durch die Vibration in die Luft geschleudert und landen dann immer anders, so dass die vorher gleichmäßigen Vibrationen nun ungleichmäßig klingen.

Zu diesem Zeitpunkt der Performance erhöhen wir auf dem Handy-Display durch Drehen eines virtuellen Knopfes die Frequenz. Dabei geben wir keine Zahlenwerte ein, das würde die Aufmerksamkeit zu sehr vom Klang ablenken, sondern führen mit dem Finger eine zuvor ausprobierte Bewegung aus, um die Frequenz jeweils um ca. 40 Hz zu erhöhen. Diese ist nicht für jeden Schritt gleich, deswegen ist der Kreisabschnitt der Drehbewegung Teil der Partitur.

Dadurch, dass die Frequenz nun steigt, verringert sich der Hubraum der Membran und dieser Zusammenhang wird unmittelbar hör- und sichtbar. Die Chipkarten hüpfen nicht mehr in den Lautsprechern, sondern liegen auf der Membran auf. Durch ihre flache, gleichmäßige Form verschieben sie sich jedoch weiterhin. Die Vibrationen klingen nun nicht mehr perkussiv, sondern wie ein analoger elektrischer Verzerr-Klang. Man würde ihn eher mit elektrischem Strom, mit Synthesizern in Verbindung bringen. Er wird aber nur durch die sich verändernde Position der Chip-Karten variiert und lässt sich zusätzlich dadurch steuern, indem man mit Schlegeln die Chipkarten leicht berührt. Diese Klänge verbinden sich mit den nun in den hörbaren Bereich angehobenen Bass-Frequenzen, so dass das Ende der Performance einen anderen, einen stärker atmosphärischen Charakter bekommt. Die Frequenz wird in mehreren Stufen erhöht, dabei kontrollieren die Spieler die Glissandi-Bewegungen. Die Performer steuern am Ende mit ihren Oszillatoren immer die gleiche Frequenz in Stufen von ca. 40 Hz an, zielen aber mit dem Gehör auf einen minimalen Unterschied, so dass Schwebungen entstehen. Diese Schwebungen nehmen auf andere Weise den vorher verwendeten Puls der Membran auf und betten die leisen Distortion-Klänge in einen immersiven Klang ein

Im Bereich von ca. 150 Hz (auch abhängig von der Lautstärke) ist der Hubraum der Membran so klein geworden, dass die Bewegungen der Chipkarten enden. Sie bleiben liegen. Wenn es so weit ist, drehen die Performer langsam die Lautstärke zurück und beenden das Stück

Aesthetik, Repräsentation

Der komponierte Hauptteil von Hubraum steht einerseits in einer Tradition materialer Ästhetik und integriert Materialien und Klänge, die man normalerweise nicht im Konzertraum erwartet.  „Komponieren heißt ein Instrument bauen“, dieser Satz von Helmut Lachenmann trifft auf viele Composer/performer der letzten Jahrzehnte und auch auf Hubraum zu.

Der Anfangsteil des Quartetts versucht einen anderen Ansatz. Die Künste erleben in den letzten Jahren häufig eine Verschiebung der Mimesis von der inhaltlichen auf die repräsentative Ebene. Ein Motor für Künstler war z.B. immer das Aufheben von Hierarchien, das Integrieren von vorher ausgeklammerten Dingen in eine umfassende Ästhetik. Dies findet nun z.B. durch Mitmach-Konzepte oder divers besetzte Ensembles statt, in denen die Akteure qua ihrer Rolle eine hierarchiefreie, diverse Gesellschaft repräsentieren. Man sieht es auch an der Verwendung von weißen Plakaten bei den jüngsten chinesischen Demonstrationen. Nicht die Plakat-Inhalte provozieren, sondern die Repräsentation einer zum Schweigen gezwungenen Opposition.

Mit den Auto-Lautsprechern, verwende ich einen Alltags-Gegenstand, der einerseits für passiven Musik-Konsum steht, andererseits für aktive Eroberung des öffentlichen Raums.Als Bewohnerin von Neukölln reißen mich diese Klänge nur selten mit (es kommt auch mal vor), meistens ärgern sie mich, ich fühle mich den lauten Klängen ausgeliefert.  Beschwerden und Hinweisen auf meinen anderen Geschmack wären zwecklos und lächerlich. Es ist ein Machtspiel. Also: selbst in den öffentlichen Raum ziehen und versuchen, ein Stück zurückzuerobern. Selbst ein Stück Öffentlichkeit repräsentieren. Im besten Fall handelt es sich bei den Autos außerdem um die Autos, die tatsächlich mit solchen Lautsprechern ausgestattet sind, die Besitzer sind dann -zumindest über ihre Autos- integriert und repräsentiert.

Neue Hörerschaften

Zum Glück war dies, wenn auch mit viel bürokratischen Vorlauf, in Berlin-Neukölln möglich. Wir bekamen die Genehmigung für drei Aufführungen an einem Samstagnachmittag. (In Deutschland gelten eigentlich Lärmschutzregeln, die aber selten kontrolliert und deswegen oft ignoriert werden). Wenn am Anfang die Autos mit den Pop-Songs auf den Platz fahren, beginnen wir mit einer Alltagssituation, die jeder kennt, laden dann aber zu einem Perspektivwechsel ein. Aus dem Status-Symbol wird ein experimentelles Instrument.  Die nach der Auto-Intro gespielte Komposition ist in keiner Weise eine Vereinfachung der ebenfalls existierenden Duo-Version. Die Menschen, die stehen geblieben sind, haben ein Stück gehört, das genauso auch an Konzertorten für experimentelle Musik gespielt wird, die sie aber nie besuchen würden.

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[1] Manche erinnern sich vielleicht auch noch an das Kartenspiel: Autoquartett. Mit dem größten Hubraum, den meisten PS oder vielen Zylindern konnte man gewinnen.