in : Sprache. Ein Lesebuch von A-Z. Hrsg. vom Deutschen Hygiene-Museum Dresden, 2016.
Nominieren wir einmal folgende Kandidaten für den Oscar des Original-Tons:
1 „Ich bin ein Berliner“ (US-Präsident Edward Kennedy am Berliner Tor)
2 „That’s one small step for a man, one giant leap for mankind“ (Astronaut Neil Armstrong bei der Mondlandung)
3 „Ich habe fertig“ (Fussballtrainer Trapattoni)
4 „Nach meiner Kenntnis ist das sofort (..)“ auch bekannt als „Schabowskis Zettel“ (Zentralkomitee-Mitglied Günter Schabowski verkündet Reisefreiheit für DDR-Bürger )
5 „heul-schnief, tote Babies“ , auch bekannt als „Brutkastenlüge “ (irakische Diplomatentochter Nayirah)[1]
Sie sind die Jury. Und sie hören nur den Ton. Einiges an Arbeit haben Ihnen Vor-Jurys bereits abgenommen. Vergeben sind die Oscars in den Kategorien „Sound“, „internationale Bekanntheit“, „Eleganz der Formulierung“, „Verbindung mit historischem Ereignis“. Nummer 5 wurde als „Scripted reality“ entlarvt und sollte disqualifiziert werden, gewann dann aber in der Kategorie „nachhaltige Wirkung“, da die Aussage zunächst geglaubt wurde und zur Entscheidung für den Irak-Krieg beitrug.
Jetzt ist es an Ihnen, den Oscar in der Königskategorie zu vergeben: „Authentizität“. Denn dafür lieben wir den O-Ton. In ihm sehen wir die kleine ehrliche Insel in einer Welt der inszenierten Massenmedien. Dabei ist jeder O-Ton immer schon eine Kopie. Er wird paradoxerweise erst durch die Aufzeichnung zum Originalton. Sprecher und Urheber müssen dabei eine Person sein. Auch Schauspielersätze werden ja permanent aufgezeichnet und in Kino oder Fernsehen verbreitet. Doch hier stimmen Urheber und Sprecher nicht überein. Wir sehen also im O-Ton so etwas wie eine Aussage mit Unterschrift.
Authentisch wirken O-Töne, wenn das Gesagte spontan herausplatzt. Denn die Stimme sitzt im Körper und der Körper lügt nicht; jedenfalls nicht, wenn er sich nicht vorbereiten kann. Das haben Sie auch schon erlebt? Dann sind Sie als Juror/Jurorin qualifiziert! Sie erkennen genau, wann sich jemand verstellt, oder?
Gehen wir die Liste unter diesem Aspekt nochmal durch: Der Satz von Kennedy stand offensichtlich im Manuskript und kann aussortiert werden. Ob Neil Armstrong sich seinen Satz vorher überlegt hat, wissen wir nicht. Ein Manuskript hielt er auf dem Mond nicht in der Hand, aber seine Stimme wirkte kontrolliert. Das Heulen der irakischen Diplomatentochter war sehr körperlich, aber trotzdem gelogen. Wussten Sie gleich! Ist er nicht dennoch authentisch? Schließlich entlarvt er auf selten deutliche Weise die Manipulationsversuche im Zusammenspiel von Politik und Massenmedien. Na gut, das wäre die Kategorie „Medienkritik“. Weiter.
Trapattonis Wutausbruch bei einer Pressekonferenz empfanden alle als authentisch, vor allem – und das scheint ein wichtiges Merkmal – weil er Fehler machte. Jemand, der so medienerfahren ist, macht das wohl nicht freiwillig. Also glauben wir auch seine Wut. Und sehen sie als punktuellen Riss in der Inszenierung. Ein kurzer, unverhoffter Blick hinter den Vorhang.
Aber worum ging es schon dabei? Als Fußballtrainer kann er sich das erlauben, und wird dafür geliebt. Schabowski hatte dagegen weit mehr zu verlieren. – Moment, sagten wir nicht gerade, dass vom Manuskript abgelesene Sätze weniger authentisch wirken? Wieso ist dann ausgerechnet dieser „Zettel“ nominiert?
Schabowski hatte ganz offensichtlich etwas vollkommen anderes vor, und musste am Ende nicht nur seine eigene Wurschteligkeit entblößen sondern die eines ganzen Systems. Im Ton hört man deutlich den Zettel, den Schabowski nicht wie andere Redner kaschiert, sondern notgedrungen performativ nutzt. So wird der Zettel, wie der Kunstwissenschaftler Boris Groys sagen würde, als submedialer Raum hörbar, als „Raum des Verdachts“.[2] Und dahinter die ganze unter Verdacht stehende DDR. Mit dem Knittern des Zettels bekommt die Aussage eine selbst im Akustischen spürbare, bildliche Qualität. Also, klare Entscheidung: the Oscar goes to Günter.
Dass O-Töne so glaubhaft wirken, macht sie auch für die Künste attraktiv. Dort ergänzen sie immer öfter die virtuose Inszenierung von Schauspielern und Musikern. Denn Authentizität erleben wir eher als Nebenprodukt einer auf Perfektion angelegten Inszenierung; nicht dort, wo jemand beschließt, natürlich und echt sein, sondern dort, wo jemand loslassen muss.
Man könnte annehmen, der O-Turn, sei eine scharfe Abbiegung gewesen, die eingeschlagen wurde, sobald Töne sich speichern ließen. Er bildet aber eine Kurve, die schon vorher begann und auch nachher noch einige Schlenker machte. Literarische Sprache hat sich über die Jahrhunderte peu à peu dem alltäglichen Sprechen angenähert. Orson Welles berühmtes live gesendetes Hörspiel „Der Krieg der Welten“ spielte z.B. schon 1938 mit dem dokumentarischen Charakter von Reporter- und Zeugenstimmen, einer Zeit also, in der die Magnettonaufzeichnung noch gar nicht zur Verfügung stand. Es finden sich in Hörspiel, Fernsehen und Film seitdem zahlreiche Fake-Fiction-Beispiele (z.B. die Fake-Dokumentation „Exit Through the Gift Shop“ (2010) des Streetart-Künstlers Banksy), die sich den dokumentarischen Charakter von Originalton zunutze machen, um die Hörer auf eine falsche Fährte zu locken. Die „O-Töne“ sind gefälscht und enthüllen dennoch eine Wahrheit. Diese Wahrheit liegt aber im Hörer – nicht im Sprecher. Es ist der eigene Abgrund, der hier erhellt wird, und das darin wohnende Vertrauen in die Medien.
Der materiale O-Turn in den Künsten begann zwar schon 1930 mündete aber physisch in einer Sackgasse. Der Filmemacher Walter Ruttmann hatte für seine O-Ton-Collage „Weekend“ Originaltöne in Berlin aufgenommen und diese auf der Filmspur montiert, ähnlich wie die Kubisten damals Fundstücke in ihre Bilder klebten. Das Filmspur-Verfahren war jedoch damals zu teuer und wurde nicht weiter verfolgt.[3] In den sechziger Jahren produzierte der Rundfunk eine Welle von O-Ton-Hörspielen, getragen von dem Gedanken, hier käme nun unzensiert eine Arbeiterschicht zu Wort, deren unverbildete, nicht inszenierte Sprache zuvor nicht zu hören war. Man fragte sich aber bald, „ Ist denn das noch O-Ton? Ist das nicht auf eine triviale, so absichtsvolle wie leicht durchschaubare Weise ein verkünstlichter, ein aufs Reportagemuster zugeschnittener Gebrauchs-, statt ein Originalton?“[4]
Das Bewusstsein für die Schere im Kopf sowie die Manipulation durch Auswahl wuchs schnell und ist inzwischen Gemeingut. Dennoch erfreut sich der O-Ton ungebrochener Beliebtheit, und es ist ein Volkssport, darüber zu diskutieren, ob jemand einen Satz strategisch platziert hat oder nicht. Hat Angela Merkel ihr „Wir schaffen das“ geplant, oder ist es ihr rausgerutscht? Im Zeitalter von Talk-Shows, Youtube und Facebook finden wir uns alle permanent in der Rolle des O-Ton-Jurors wieder.
Um der Schere im Kopf zuvorzukommen, experimentieren Künstler mit Methoden, die auf das Loslassen von Inszenierung zielen und performative Elemente miteinbeziehen. Ähnlich, wie es bei Schabowski ungewollt geschah. So lud z.B. der Komponist Mauricio Kagel Musiker in ein Studio, verwickelte sie in Gespräche und verwendete am Ende nur diese Sprachaufnahmen, in welchen die Mitspieler abgelenkt und innerlich noch nicht auf Sendung waren. Auch die Konfrontation mit Gegenständen in einem Interview, das Reden beim Gehen oder die Inszenierung von Dschungelcamps zielen darauf ab, eine Person von sich selbst abzulenken und zu spontanen Reaktionen zu bewegen. Dabei kann man allerdings manchmal so viele Einblicke bekommen, dass es peinlich wird. Künstlerisch interessante O-Töne enthüllen nicht nur, sondern werfen Fragen auf. Deswegen werden sie oft geschnitten. Denn oft lassen erst die Lücke oder die Wiederholung einen Subtext spürbar werden. Gleichzeitig erlaubt das Kappen von O-Tönen, sie in die mimetische „Echtzeit“ von formalen Strukturen in Bild oder Klang einzufädeln, so dass sie nicht sperrig aus dem Werk heraus auf andere Zeiten und Orte verweisen. [5]
Auch in der Musik gab es Vorläufer, bevor O-Töne in materialer Form in musikalischen Formen auftauchten. Das Rezitativ bildete in der Oper einen wichtigen Kontrapunkt zur gesungenen Arie. Das gekünstelte Sprechen steht noch überwiegend im Dienst der Diegesis; es sollte Handlung kompakt und verständlich vermitteln. Gegenüber dieser vermittelnden Sprache, die immer auf andere Zeiten und Orte verweisen kann, schildern die expressiven Arien mimetisch die Gefühle der Protagonisten. Im Laufe der Jahrhunderte erfährt das Sprechen in der Musik einen Wandel von Diegesis zu Mimesis. Komponisten wie Schönberg, Partch, Janáĉek und Ashley haben sich von Sprechmelodien in ihren Werken inspirieren lassen. Und mit Beginn der Tonaufzeichnung wurden auch O-Töne integriert, z.B. in der Musique concrète und bei Steve Reich.
Daneben entwickeln sich in allen Künsten weiterhin Verfahren, die nicht auf Tonaufnahmen beruhen, sich aber an den Charakter des O-Tons anlehnen. Im Falle der Performancegruppe She She Pop bekommen z.B. Mitspieler O-Töne, die während der Proben entstanden sind, auf den Kopfhörer und sprechen sie in der Aufführung nach. Hörspielregisseur Plamper gibt seinen Schauspielern Szenenskizzen vor und lässt sie ihre Texte improvisieren, damit es authentischer klingt. John Smith erzeugt in seinem Film „The Girl Chewing Gum“ (1976) mit der Reporterstimme aus dem Off ein Zeitparadox, indem er vordergründig eine Einheit von Zeit und Ort suggeriert, die offensichtlich im Gegensatz zur zeitversetzten Montage von Bild und Ton steht.
Welches Verfahren auch immer: der O-Turn in den Künsten ist der Versuch, das Unbewusste fruchtbar zu machen für eine lebendige, authentische Ausdrucksweise und möglicherweise einen unkontrollierten Subtext. Interessant ist das vor allem, wenn dabei nicht nur eine Einzelperson voyeuristisch beleuchtet wird, sondern ein größerer submedialer Raum. Der passt manchmal auf einem Zettel.
———————————————————
[1] Sie behauptete, irakische Soldaten hätten bei der Invasion Kuwaits Frühgeborene aus ihren Brutkästen gerissen und auf dem Boden sterben lassen. Das Video ist unter dem Stichwort Nayirah auf Youtube zu finden.
[2] Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000.
[3] Ästhetisch war Ruttmann seiner Zeit weit voraus, doch blieb das Stück lange Zeit verschollen. Erst 1978 wurde es wieder entdeckt und wird seitdem als Klassiker der Hörspielkunst immer wieder gesendet.
[4] Vormweg, Heinrich: Das Verfahren O-Ton, WDR-Sendemanuskript, 26. 4. 1974.
[5] Beispiele für O-Ton-Stücke, die durch Pausen und Wiederholungen eine eigene Form bekommen sind z.B. „The dreams“ (BBC 1964) von Barry Bermange und „Preislied“ (BR/NDR 1971) von Paul Wühr..